Hallo Lesergemeinde,
dann begrüße ich euch mal zu einem weiteren Retrobericht. Dieses mal schlägt es uns nach Südamerika. Genauer gesagt in die nordperuanische Stadt Piura. Damals, also 2002, hatte ich meiner Erlebnisse in eine E-Mail gepackt und an meine Reisebegleiter geschickt. Leider gibt es diesen E-Mail-Account nicht mehr aber trotzdem erinnere ich mich an die Erlebnisse in Piura als wäre es gestern passiert. Fangen wir ganz einfach von ganz vorne an.
2002 konnte Independiente gegen Boca die Meisterschaft klar machen. Die Ausgangslage war traumhaft. Independiente reichte ein Punkt; Boca musste gewinnen um seine Chancen auf den Titel zu wahren. Mit den Brüdern aus Rinnthal und Olli H wurde der Flieger Richtung Buenos Aires bestiegen. Nach der Meisterfeier von Independiente ging es mit dem Nachtbus nach Lima. Unser dortiges anvisiertes Derby wurde allerdings verschoben. JM zog es nach Bolivien. Den Rest verschlug es nach Kolumbien. Von dort ging es nach Ecuador; allerdings nur noch zu zweit. Olli H blieb schwer verliebt in Kolumbien zurück.
BM und ich konsumierten noch Spiele bei S.D. Quito und L.D.U. de Quito und hatten somit die beiden größten Grounds von Quito in der Tasche. Danach zog es uns nach Guayaquil wo das Derby zwischen Emelec und Barcelona auf uns wartete. Abgemacht war, danach wieder nach Peru zu reisen zu dem genannten Aufstiegsspiel. BM überlegte es sich allerdings kurzfristig anders und wollte noch Barcelona bei einem Coppa Spiel mitnehmen. Man kann es ihm nicht verdenken. Für mich einer der schönsten Grounds in Südamerika und er fehlt mir noch bis heute.
Meine Wenigkeit hatte allerdings keine Lust länger in Guyaquil zu verweilen. Die Stadt; kein Vergleich zu Quito. Auserdem gab es eine Käferplage. Überall waren diese Käfer. Am Busbahnhof angekommen konnte man keinen Schritt unternehmen, ohne ein Knirschen zu hören, da man, ungewollt, einen Käfer durch seinen Schritt ins Jenseits beförderte....
Also von BM verabschiedete und mit einem Bus zur offiziellen Busstation gefahren oder stieg man am Wegesrand zu? So genau weiß ich es nicht mehr; ist ja mittlerweile über 18 Jahr her. Vom Spiel weiß ich allerdings noch alles. Die Busfahrt verlief ereignislos; bis auf den Grenzübertritt nach Peru. Als Einziger Europäer im Bus benötigte ich einen Einreisestempel. Südamerikaner benötigen diesen nicht. Nun galt es dies dem Busfahrer klar zu machen. Steige ich jetzt mit Rucksack aus, könnte der Fahrer denken, ich möchte hier raus. Lasse ich meinen Rucksack im Bus und das Grenzgehampel dauert zu lange fährt der Bus ev. mit Rucksack aber ohne mich weiter. War aber alles kein Problem. Der Beifahrer vom Bus verhalf mir zu meinem Stempel. Mit 2 Dollar "Trinkgeld" konnte man wohl 2 Stunden Wartezeit in 2 Minuten abkürzen.
In Piura angekommen, suchte man sich eine saubere und preiswerte Unterkunft. Buchte allerdings erstmal nur für eine Nacht, da man ev. nach dem Spiel über die Nacht nach Lima zurückfahren wollte.
Am nächsten Tag war es dann soweit. Es war noch früh am Tag. Man erkundete ein wenig die Stadt und lies sich in einem Park nieder. Es war herrliches Wetter. Man genoss sein Brahma und die Sonne. Nichts deutete auf eine dramatische Wendung von diesem Tag hin. Das ich nur wenige Stunden später Angst um mein Leben haben würde, ahnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Als es Zeit wurde machte man sich zum Ground um später unfassbares zu erleben.
Aufstiegsspiel zur 1. Liga
Peru
Atletico Grau vs. Club Deportivo Defensor Villa del Mar (Team aus Lima)
Dezember 2002
Am Ground angekommen erwartete einen auf dem Vorplatz zur Haupttribüne das pure Chaos. Der Einlass war durch ein Eisengittertor gesichert. Etliche Eintrittswillige mit regulären Karten wurde der Eintritt verwehrt. Manchmal ging das Eisengittertor auf, um Einzelnen hereinzulassen und sofort drängte die Masse. Vereinsoffizielle prügelten dann mit Eisenstangen auf die Massen ein. Auch mir, meinen Ausweis durch die Gitterstäbe, die rechts und links neben dem Eisengittertor waren, gezeigt, wurde der Eintritt verweht. Unerhört. Einen Journalisten, extra aus Europa angereist, an seiner Arbeit zu behindern? Anscheinend hatte der Verein das große Geld gewittert und wesentlich mehr Karten verkauft, als er eigentlich durfte.
Man schaute sich das Spektakel an dem Eingang noch eine Weile an. Als die ersten Verletzten, von der Eisenstange getroffen oder zwischen das Tor geraten, wegtransportiert wurden, war klar. Hier kommt man nicht rein. Was also tun? Man erkundigte den restlichen Ground. Eine Lücke gibt es ja bekanntlich überall. Beim Erkunden traf man auf ein Kamerateam aus Lima. Auch die Kollegen waren über die Zustände mehr als entsetzt und hatten das gleiche Problem. Gemeinsam machte man sich auf die Suche und fand eine Tür. Klopf, klopf und schon war man drin in der Bude.
Das Teil war gut gefüllt und das Volk in Partylaune. Alle Zutaten für ein schönes Fußballfest.
Die Gegengerade übervoll aber noch friedlich und auch in Partylaune.
Nach dem Spiel kippte die Stimmung und aus einem schönen Fußballfest wurde der blanke Horror. Atletico Grau vergeigte es. 0-0 und es wäre wohl ein Sieg von Nöten gewesen.
Zuerst flogen Steine von der linken Seite auf die Haupttribüne. Nicht schön; vor allem wenn die Steine richtig groß sind. Dann wurden auch Steine von der rechten Seite auf uns geschmissen. Es waren keine Gäste im Stadion? Auf wen schmeißen die eigentlich? Und da wurde es mir klar. Die drehen total durch......Auf der Gegengerade wurde der Zaun umgeknickt und die Jungs stürmten aufs Spielfeld.
Absolutes Chaos. Steine von links, Steine von rechts und was die anstürmende Masse vorhatte wusste man nicht; ahnte es aber..... Man flüchtete erstmal in den Vorraum. Erst da erlebte man das wahre Ausmaß. Noch immer standen Hunderte wütender Fans vor dem noch verschlossenen Eisengittertor und waren extrem sauer. Erstens, da ihr Verein, Atletico Grau es vergeigt hatte und Zweitens, weil man trotz regulärer Eintrittskarte nicht rein durfte.
Ein Teil lieferte sich Straßenschlachten mit der Staatsmacht. Ein anderer Teil versuchte das Eisengittertor aufzubrechen und andere schmissen Steine und Flaschen über die Mauer. Also; links und rechts Mauer; Mitte Eisengittertor.
Wer in Physik gut aufgepasst hat, der weiß, dass wenn man sich an die Mauer presst, einen die Gegenstände, die über diese Mauer geschmissen werden, nicht treffen können. Psychologisch ist es aber so, dass man doch Angstscheiß produziert, sieht man die Masse an Steinen, die geschmissen werden. Wenn dann noch paar Meter gegenüber ebenfalls eine Mauer steht und die geschmissenen Steine daran abprallen und vor deine Füße kullern......Und wenn dann noch die Steine Faustgroß sind; dann stellt man sich die Frage. Warum habe ich keine Frau und Kinder und gehe sonntags in den Zoo; anstatt zum Fußball zu fahren.......
Lange darüber nachdenken konnte ich allerdings nicht. Die Verrückten waren kurz davor, das Eisengittertor aufzubrechen. Was dann passieren würde? Keine Ahnung aber der Mob war außer Rand und Band und ich als Kontinentaleuropäer mit Brille, gleichbedeutend mit Wohlhabend, sicherlich ein Opfer.
Die Lage kurz vor der Eskalation. Steine prasselten und das Eisentor kurz vorm Aufbruch. Von Angst getrieben suchte ich einen Zufluchtsort. Ins Stadion zurück und aufs Feld wollte ich nicht; zu chaotisch die Lage. Man fand eine Holztür. Klasse; dass Tor zur Rettung? Ne, war nur die Tür zu den sanitären Einrichtungen. Als ich die Tür öffnete bot sich mir ein Bild des Jammers.
Ältere Menschen, die weinten und Kinder, die natürlich auch weinten. Dazu noch 2 völlig ratlose Polizisten. Einem Jungen strich ich über den Kopf, versuchte Trost zu spenden und murmelte "loco, loco" (verrückt, verrückt).
Und ja, die Verrückten da draußen hatten es geschafft und das Eisentor aufgebrochen. Was jetzt folgte, waren die wahrscheinlich schlimmsten Minuten in meinem noch so jungen Leben. Der Mob versuchte die Tür zu unserem Zufluchtsort aufzubrechen. Man muss sich das wirklich so vorstellen, wie im Mittelalter, als man mittels Rammbock das Tor zur Burg aufbrechen wollte. Beide Polizisten stemmten sich mit Ihrem Gewicht gegen die Tür und signalisiert mir, dass ich helfen solle.
Leute; ich konnte nicht helfen. Hätte ich Darmdruck gehabt, hätte ich mir wahrscheinlich vor Angst in die Hosen geschissen. Zu meiner Ehrenrettung sei gesagt, dass die zwei kräftigen Polizistenkörper die Holztür schon kräftig verteidigten. Was hätte mein schmächtiger Körper da noch helfen können? Was würde wohl passieren, wenn dem Mob der Aufbruch gelingt? Würden die uns todprügeln oder steinigen...? Mein bisheriges Leben zog im Schnelldurchgang in meinem Kopf an mir vorbei.
Plötzlich hörten wir Schüsse? War der Mob sogar bewaffnet? Glücklicherweise nicht. Die Tür ging auf und Militärpolizei zog uns ins Freie. Das war erstmal schön und zugleich äußerst unangenehm, da alles voller Tränengas war. Die Millitärpolizei hatte den wütenden Mob wohl mit Warnschüssen und ordentlich Tränengaseinsatz vertrieben.
Unsereins flüchtete auf das Spielfeld. Der grüne Rasen beherbergte mehre Menschen, die sich kräftig aushusteten oder auch den Mageninhalt entleerten. Der Rasen war übersäht mit Steinen.
Nach einiger Zeit traute man sich wieder raus. Im Stadionkomplex war alles ruhig. Auf dem Vorplatz tobte allerdings weiter der Krieg. Wütender Mob gegen gepanzerte Fahrzeuge der Staatsmacht.
Gegenüber dem Vorplatz zum Stadion gab es einen Biergarten, der sogar geöffnet hatte. Todesmutig durchquerte ich die Kampflinie mit dem Ziel Biergarten. Mehrere Schaulustige tranken ihr Bier und schauten sich das Spektakel auf dem Vorplatz an. Auch ich gönnte mir auf den ganzen Schrecken erstmal ein Pivo.
Danach suchte man sich auf der Straße ein Taxi. Seitenscheibe war hinüber und Glassplitter auf dem Beifahrersitz aber egal; Hauptsache weg von hier. Auf der Fahrt zur Unterkunft sah man noch eine Gruppe Jugendliche, die einen Tannenbaum (Weihnachten stand kurz vor der Tür) in eine geschlossenen Tankstellenscheibe wuchteten. Dahinter 2 Militärpolizisten, erkennbar an den weißen Armbinden, die Warnschüsse in die Luft abgaben; loco......
An der Unterkunft angekommen, verabschiedete man sich von der Gastgeberin; man hatte wirklich keine Lust mehr eine weitere Nacht in dieser Stadt zu verbringen.
Die Busse nach Lima, zumindest die Comfortklasse, waren natürlich durch die anwesenden Journalisten aus Lima, alle ausgebucht. Klasse; also war Holzklasse angesagt aber es waren über die Nacht ja nur 1.200 Kilometer.....Hauptsache raus aus Piura.
In Lima angekommen ging es mit dem Taxi direkt ins Viertel Miraflores, wo ich mich mit BM wieder treffen wollte und wo wir auch schon übernachtet hatten. Allerdings ließ ich die Herberge, Geheimtipp vo Olli H. aus dem Lonley Planet (Warum eigentlich Gehemitipp, wenn im Lopnley Planet veröffentlich?) links liegen und suchte eine brauchbarere Herberge, die auch gefunden Wurde. 8 Dollar das Einzelzimmer. Bad mit 3 (in Worten DREI) Wasserhähnen. Kalt, Warm und Heiß. Dazu Balkon Südseite und, durch Zufall entdeckt, FSK 18 Sender. Wirklich beim durchklicken zwischen Tom&Jerry entdeckt. Ohne Aufpreis.....
Am nächsten Tag tippte man in einem Internetcafe seine Erlebnisse in die Tastatur und lotste BM zur neuen Unterkunft.
ENDE
Wer jetzt glaubt, diese Geschichte ist übertrieben und bla, bla, blubb. Wer meinen Blog kennt, der weiß, dass es vermieden wird Spiele "schönzureden" nur weil man live vor Ort war. War das Spiel nicht die erhoffte "Bombe" wird das auch klar kommuniziert. Mit den Begriffen "Weltklasse" und/oder "brachial" wird äußerst sparsam umgegangen.
Fahre seit über 35 Jahren zum Fußball. Seit 1994 auch international abseits vom Stammverein (den man aktuell kaum noch besucht). Die Minuten, als der Mob versuchte die Tür zu den sanitären Einrichtungen aufzubrechen, in denen wir uns verschanzt hatten, waren die schlimmsten Minuten in dieser Karriere......